Bea hob ihr Glas, ich tat es ihr gleich. Wir stießen an und tranken einen Schluck des Rotweins. Nicht schlecht. Chianti, 2002. Das Shepherd’s Inn hatte mich schon bei meinem ersten Besuch überrascht. Von außen sah es wie ein typisches Landgasthaus aus, aber drinnen herrschte eine gepflegte, aber nicht übertriebene Eleganz. Die Küche war kosmopolitisch – französisch, thai, englisch – und die Getränkeauswahl wohlsortiert. Neben der Bar hatte das Shepherd’s Inn nur einen weiteren Raum, wo etwa ein Dutzend kleine Tische mit weißem Leinen, Blumenarrangements und je einer Kerze standen. Wie nicht anders zu erwarten an einem Freitag, war das Lokal voll; ich war froh, reserviert zu haben.
Ich trug schwarze Cordhosen und einen schwarzen Pullover, Krawatte wurde glücklicherweise nicht verlangt. Die Entscheidung für die Kleidung fiel mir nicht leicht, aber ich dachte mir spontan, dass man auf schwarzem Stoff etwaige Blutflecken schlechter sehen würde. In meiner Hosentasche steckte ein neues Klappmesser. Ich schwitzte ein wenig, aber wenigstens halluzinierte ich nicht mehr. Ich hoffte, dass das so bleiben würde.
Es war still an unserem Tisch. Zeit für ein wenig Geplauder.
„Bea, fühlst du dich bei Widow’s Son eigentlich wohl? Ich habe den Eindruck, du bist zu gut, um nur als Assistentin zu arbeiten. Du würdest doch sicher einen besseren Job finden.“
Bea errötete. „Weißt du, Alfred, das ist nicht ganz so einfach. Ich frage mich …“ Sie schien nachzudenken. „Nein, das kann ich dir noch nicht erzählen. Es ist mir zu peinlich.“ Ihr Gesicht sah jetzt aus, als sei es aus einer Roten Bete geschnitzt.
Ich lachte. „Ach, peinlich … kann ich verstehen. Du musst es mir nicht erzählen, aber es würde mich interessieren. Verzeih mir die Frage, aber hat es vielleicht etwas mit mir zu tun?“
„NEIN!“ stieß Bea heraus. Dann, etwas ruhiger: „Nein, keine Sorge. Es ist nur … ach, weißt du, ich bin nicht so stark und robust, wie ich vielleicht auf dich wirke.“
Das klang interessant. Den Smalltalk hatten wir aber schnell hinter uns gelassen … Ich nickte ihr lächelnd zu.
„Ich habe gewisse … Probleme. Na, wer hat die nicht? Jedenfalls bin ich nicht belastbar genug, um in der freien Wirtschaft groß herauszukommen. Schon die Position als deine Assistentin ist immer wieder eine Herausforderung; die ganze Hektik, der Stress … ich sollte dir das nicht sagen. Wahrscheinlich wirst du mich jetzt entlassen.“ Sie nahm einen großen Schluck Wein zu sich.
Ich schüttelte den Kopf. „Nein, mach dir da keine Sorgen. Ich schätze deine Arbeit sehr, du bist mir eine große Hilfe. Wenn du private Probleme hast, mit deinem Freund vielleicht …“
„Nein, das ist es nicht.“ Sie zögerte, dann nickte sie. „Was ich dir jetzt sage, habe ich bisher nur einer anderen Person erzählt. Ich … ich höre Stimmen.“
Mein Kinn drohte, auf den schön dekorierten Tisch zu fallen, aber ich beherrschte mich. Bea schien es nicht aufzufallen, sie kam richtig in einen Fluss.
„Ich höre schon seit meiner Jugend Stimmen. Ich dachte früher, dass das meine Schutzengel wären, oder die Stimmen Verstorbener. Sie sind meistens freundlich zu mir, erzählen mir vieles, aber manchmal, besonders dann, wenn ich unter Druck stehe, werden sie bedrohlich. Stress tut mir nicht gut, dann sind sie laut. Die Medikamente helfen, aber machen mich müde. Eigentlich dürfte ich auch keinen Alkohol trinken, aber das ist mir im Moment egal.“ Sagte es und leerte ihr Glas. Ein aufmerksamer Kellner füllte unsere Gläser nach. Ich schwieg.
Sollte ich ihr von meiner eigenen Situation erzählen? Vielleicht würde sie es verstehen. Waren wir in derselben Situation? Ich entschloss mich für einen vorsichtigen Ansatz.
„Das kann ich sehr gut nachvollziehen, Bea. Danke, dass du mich ins Vertrauen gezogen hast. Vielleicht beruhigt es dich zu wissen, dass du mit diesem Problem nicht allein bist. Viele Menschen hören Stimmen oder sehen imaginäre Dinge …“
Was machst du da?
Ich ignorierte Robert. Bea starrte mich ungläubig an. Ich nickte ihr zu. „Ja, ich höre auch Stimmen. Gerade eben wieder. Und ich bin auch in Behandlung wegen meiner Halluzinationen. So, jetzt ist es raus.“
„Oh Gott, das tut mir leid. Ausgerechnet du, der du immer so pragmatisch bist.“ Sie legte ihre Hand auf die meine. „Willst du mir mehr davon erzählen?“
„Viel zu erzählen gibt es nicht. Die Stimmen sind eine relativ neue Entwicklung, aber ich sehe schon seit Jahrzehnten eigenartige Dinge, die nicht existieren. Und die mich auch in Angst versetzen.“
Stopp! Hör auf, Alfred! Du verbrüderst dich mit ihr, und dann kannst du nicht tun, was du tun musst. Du wirst ihr Vertrauter werden, sie deiner, und es wird dir noch schwerer fallen, sie zu töten!
In meinem Kopf sprach ich zu Robert: „War das nicht die Idee? Emotionale Ladung? Sollte ich sie nicht mögen? Hätte das Opfer sonst einen Wert?“
Tu, was du nicht lassen kannst. Aber schieb es nicht mehr lange auf. Nur noch etwas über einen Tag!
„Alles in Ordnung, Alfred? Deine Lippen bewegen sich.“ Bea blickte mich besorgt an.
Ich winkte ab. „Ich wies nur gerade eine Stimme ab, das ist alles.“ Ich lachte. „Du siehst, ich kann deine Situation gut verstehen.“ Ich hielt ihre Hand etwas fester und spürte, dass Bea den Griff erwiderte.
Du sollst nicht mit ihr schlafen, du sollst sie töten! Achtundzwanzig Stunden!
„Mehr Wein!“ Ich trank aus und goss mir selbst nach. Bea schaute mir kritisch zu.
„Willst du dich betrinken, Alfred?“
„Ja!“ lachte ich. „Damit ich endlich meine Ruhe habe. Cheers!“ Ich trank schnell, füllte das Glas wieder auf. Roberts Stimme wurde immer leiser, bis ich ihn nur noch als Gemurmel im Hintergrund wahrnehmen konnte. Bea lächelte mich vorsichtig an.
„Übertreib es bitte nicht. Wir haben ja noch nicht einmal gegessen, und das will ich nur ungern verpassen.“ Wie aufs Stichwort kam der Kellner, und wir bestellten. Ich nahm das rote Thai-Curry mit Reis, Bea den Blackbird Pie mit Chips. Als der Kellner mit der Bestellung in die Küche eilte, lehnte ich mich verschwörerisch vor.
„Weißt du, meine Stimmen mögen es nicht, wenn ich Alkohol trinke. Sie werden dann immer stiller, bis sie ganz verschwinden. Und gerade eben war die eine der Stimmen, die ich Robert nenne, doch sehr penetrant … ich will mich auch nicht besaufen, aber wenn es hilft …“
Bea nickte. „Das ist bei mir sehr ähnlich, auch wenn ich die Stimmen eh nur sehr leise vernehme. Aber schon nach ein, zwei Gläsern Wein oder Bier verstummen sie ganz. Deshalb pfeife ich auch auf die möglichen Wechselwirkungen mit meinem Medikament und trinke auch mal einen über den Durst. Wie heute.“
Ich hob mein Glas und prostete ihr zu. Wir verstanden uns. Ja, wir verstanden uns … Vielleicht würde sie mir bei meinem Problem weiterhelfen können? Das Messer brannte ein Loch in meine Hose, aber in mir kam die Gewissheit auf, dass ich Bea nicht töten könnte. Wir waren uns ZU ähnlich.
„Bea, deine Stimmen … verlangen sie manchmal Dinge von dir, die du gar nicht machen willst?“ Vorsicht!
„Ja, aber seit meiner Therapie nur noch sehr selten. Früher war das anders, da zwangen mich die Stimmen dazu, zum Beispiel mein T-Shirt auszuziehen oder jemanden zu beleidigen. Und was dann mit Gabriel geschah …“ Sie verstummte.
„Was war denn damit? Er hat mir nie erzählt, weshalb ihr euch getrennt habt. Er meinte nur, dass du zu verrückt für ihn bist. Ich dachte, er meint das im übertragenen Sinne …“
Bea nahm einen weiteren Schluck Wein und tupfte sich sorgfältig die Lippen ab. Dann: „Ja, unser Psychologiestudent Gabriel. Als ich ihm das erste Mal von meinem Problem erzählte, war er fasziniert. Es passte in sein Beuteschema. Er, der Meister, ich, die Schülerin. Helfersyndrom. Aber ich spürte, dass er mich nicht wirklich verstehen konnte, dass ihn mein Zustand verstörte. Und irgendwann merkte er es auch. Die Spannungen zwischen uns wurden immer größer, und wie ich schon sagte, vertrage ich Stress nicht gut. Die Stimmen wurden lauter, wenn ich mit Gabriel zusammen war, und eines Abends kam es zur Explosion. Ich habe ihn ziemlich … zusammengestaucht.“ Sie schaute mich traurig an. „Dabei war ich doch glücklich mit ihm. Aber ich war zu anders, als dass es hätte funktionieren können. Er hat mich immer nur analysiert, nicht wirklich verstanden.“
Bald darauf kam unser Essen, und wir genossen jeden Bissen. Wir tauschten Gabeln voll Pie und Curry aus und sprachen über alltägliche Dinge – das milde Wetter, der nervige Mr. Janos, die letzten Kinofilme, die wir jeweils gesehen hatten. Bea zeigte sich als intelligente Gesprächspartnerin, und ich merkte gar nicht, wie die Zeit verflog. Aber in meinem Hinterkopf spürte ich eine tickende Uhr.
Egal.
Gegen elf Uhr waren wir beide ziemlich angeheitert, wenn nicht sogar schon betrunken. Ich spielte mit dem Gedanken, Bea zu mir einzuladen, aber fürchtete mich davor, was ich ihr antun könnte, wenn wir allein wären. Ich küsste sie zum Abschied auf die Wange und wünschte ihr ein schönes Wochenende. Sie schaute mich gleichzeitig freudig und enttäuscht an, stieg in ein Taxi und fuhr fort.
Kaum war sie gegangen, fiel der ganze Abend um mich zusammen wie ein Kartenhaus. Mein Magen hob sich, ich übergab mich auf die Straße. Dann wischte ich mir den Mund mit dem Ärmel ab.
Ich war verzweifelt und wankte jammernd heim, um mir noch einen Whisky einzugießen und mich mit zu lauter Musik zu betäuben. Aber es half nichts; immer enger zogen sich meine Gedankenkreise, ich zitterte und sah nur noch Schwärze vor mir, hinter mir, in mir.
Ich konnte mich nicht mit Medikamenten ruhigstellen lassen, das widersprach all meinen Überzeugungen. Dr. Garland konnte mir also auch nicht helfen, niemand konnte mir helfen. Ich war allein mit meiner Misere, und ich hatte nicht das Zeug dazu, da aus eigener Kraft herauszufinden.
Plötzlich, wie ein Sonnenstrahl an einem regnerischen Tag, erreichte mich die Erkenntnis, der einzige Ausweg, der mir noch blieb und den ich so lange verleugnet hatte:
Ich würde mich umbringen.